Sprachlos bis zum Tabu – Interview (im Gespräch mit Birgitta Lamparth, Wiesbadener Tagblatt), April 2010

Frau Huttel, Sie haben Ihren Roman ja schon geschrieben, bevor das Thema traurige Aktualität erfuhr. Wie kamen sie darauf?

Ich habe vor vielen Jahren Nabokovs „Lolita“ gelesen und war fasziniert, wie Nabokov es schafft, seine Leser über so viele Seiten hinweg für den Wahn eines Triebtäters zu interessieren. Das Geschehen wird ausschließlich aus der Perspektive des Ich-Erzählers geschildert. Was in Lolita vorgeht, bleibt ausgespart, man kann es als Leser nur erahnen. Das brachte mich auf die Idee, eine Geschichte aus der Perspektive eines Kindes zu erzählen…

Sprachlos bis zum Tabu

17.04.2010 – WIESBADEN

INTERVIEW Die aus Wiesbaden stammende Autorin Sabine Huttel über ihren Roman zum Thema Missbrauch

Kindesmissbrauch – das Thema ist seit Bekanntwerden erschreckend vieler Fälle in diesen Wochen in den Medien präsent wie kaum ein anderes. Wie Literatur damit sensibel umgehen kann, das zeigt die aus Wiesbaden stammende Autorin Sabine Huttel mit ihrem glänzenden, jetzt erschienenen Roman-Debüt „Mein Onkel Hubert“.

Frau Huttel, Sie haben Ihren Roman ja schon geschrieben, bevor das Thema traurige Aktualität erfuhr. Wie kamen sie darauf?

Ich habe vor vielen Jahren Nabokovs „Lolita“ gelesen und war fasziniert, wie Nabokov es schafft, seine Leser über so viele Seiten hinweg für den Wahn eines Triebtäters zu interessieren. Das Geschehen wird ausschließlich aus der Perspektive des Ich-Erzählers geschildert. Was in Lolita vorgeht, bleibt ausgespart, man kann es als Leser nur erahnen. Das brachte mich auf die Idee, eine Geschichte aus der Perspektive eines Kindes zu erzählen und mich konsequent darauf zu beschränken. So bleibt es dem Leser überlassen, sich die Probleme der erwachsenen Figuren zu erschließen. 

War es schwierig, für dieses Thema einen Verlag zu finden?

Ja, das kann man sagen. Ein Jahr aus dem Leben eines 12-jährigen Kindes – das sei nicht relevant genug, wurde mir gesagt. Das Thema sei zu negativ. Vielleicht schreckte es tatsächlich viele Verlage ab. Möglicherweise wäre das jetzt aufgrund der aktuellen Diskussion anders.

Trägt Ihr Roman autobiographische Züge?

Literatur ist immer ein Gewebe aus eigenen Erfahrungen, fremden Erfahrungen und Imagination. Natürlich fließen meine Erinnerungen an meine Kindheit in Wiesbaden in die Geschichte ein, die Atmosphäre dieser Stadt. Ich habe die Schauplätze ganz bewusst ausgesucht. Auch das Haus, in dem Helmi wohnen sollte, in der Gneisenaustraße 4, das ich aber nur von außen kenne. Anders als Helmi bin ich in einer fünfköpfigen Familie aufgewachsen, mit einem liebevollen Vater. Da gibt es also keine Parallelen. Aber ich kann mich sehr genau an die typische Sprachlosigkeit jener Zeit erinnern. Belastendes wurde häufig verschwiegen und lag dann umso bedrückender in der Luft. 

Was genau meinen Sie mit „Sprachlosigkeit“? Und welche Rolle spielt dabei die Zeit um 1960 in Ihrem Roman?

Eine sehr große. Nationalsozialismus, Krieg und Not waren gerade überstanden – und sollten am besten gar nicht gewesen sein, denn in der Zeit des sogenannten „Wirtschaftswunders“ hätte es gestört, sich intensiv damit auseinanderzusetzen. Das war ein ganz wichtiger Tabubereich. Ich erinnere mich, dass mein Vater damals oft außerordentlich bedrückt war. Er war im Krieg und in russischer Kriegsgefangenschaft gewesen, hat aber nie darüber gesprochen. Auch über psychische Krankheiten sprach man nur hinter vorgehaltener Hand, sogar über Krebserkrankungen. Ein weiteres wichtiges Tabu dieser Zeit betraf Sexualität. 

Es gibt in Ihrem Buch eine Szene, bei der man als Leser den Eindruck haben könnte, als ob Helmis Mutter etwas von den Absichten Huberts ahnen könnte – und man fragt sich, warum sie ihr Kind dennoch mit ihm ins Ferienlager fahren lässt.

Ich glaube, das ist eher aus heutigem Blickwinkel ein Widerspruch. Diese Stelle kann man nur aus der Zeit heraus verstehen. Heute, ganz besonders nach den Enthüllungen der letzten Monate, weiß man, dass sexueller Missbrauch von Kindern leider sehr häufig und in vielen Formen vorkommt, nicht selten auch in Familien. Damals war das den meisten Menschen nicht bewusst. Nur als monströser Ausnahmefall wurden z.B. in den späten 60er Jahren die sexuell motivierten Gewalttaten eines Jürgen Bartsch von den Medien thematisiert. Dass pädophile Übergriffe tagtäglich und in ganz verschiedenen, mehr oder weniger gewalttätigen Formen stattfinden, dafür waren die Menschen nicht sensibilisiert. Deshalb wird Helmis Mutter an dieser Stelle nicht misstrauisch.

Ist die öffentliche Debatte auch deshalb wichtig?

Ja, sie ist wahrscheinlich wirkungsvoller als eventuelle Änderungen des Strafrechts. Und es ist wichtig, dass auch in Familien selbstverständlicher über Sex gesprochen wird. 

Ihre Helmi hat diese Möglichkeit des vertrauensvollen Austauschs mit Erwachsenen nicht. Liegt genau darin aus Ihrer Sicht auch eine Gefahr?

Helmi wächst in einer hermetischen Situation auf, vaterlos, mit einer verschlossenen Mutter. Das macht ihr das Leben schwer. Es fehlt ihr an Zärtlichkeit. Als uneheliches Kind muss sie braver und angepasster sein als andere Kinder. Da kommt nun dieser Mann, der Leichtigkeit in ihr Leben bringt, von dem sie Klavier spielen lernt, der für Späße zu haben ist. Sie wünscht ihn sich als Vater. Als sie dann plötzlich Erfahrungen mit ihm macht, die ihr unheimlich sind, lässt sie sich darauf ein und verschweigt es ihrer Mutter. Ich vermute, ein Kind, das sich von den Eltern geliebt weiß, wäre weniger anfällig für eine solche Gefahr.

Das Gespräch führte

Birgitta Lamparth

www.wiesbadener-tagblatt.de/region/kultur/lokale-kultur/print_8768037.htm

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