Und dann war alles ganz anders – Markus Chmielorz, „Rosa Strippe“ Bochum

Wie wichtig es für schwule Männer ist, dieses Selbstbewusstsein erst zu lernen und eben nicht die Diskriminierung durch ein Verschweigen der eigenen Sehnsucht, des eigenen Begehrens, der eigenen Liebe zu wiederholen, davon sprechen dieses sieben Geschichten…

Und dann war alles ganz anders

Rezension zu: Huttel, Sabine: Slalom, Leipzig 2011

von Markus Chmielorz

Nikos und Jonas, Richard und Stefan, sie sind die Hauptpersonen in vier von sieben kleinen Erzählungen, die Sabine Huttel in ihrem Sammelband „Slalom“ in diesem Jahr vorgelegt hat. Was wird denn aus einem, der beim Erwachsenwerden merkt, dass er anders ist als seine Freunde und dessen Sehnsucht, dessen Begehren, dessen Liebe sich in einem einzigen Satz sagen lässt: „Ich bin schwul!“?

Für Stefan ist es „Neuland“, so der Titel der letzten Erzählung, die gleich zu Beginn mit der ganzen Wucht von Ablehnung, Hass und Gewalt den gesellschaftlichen Rahmen beschreibt, der auch 2011 für viele junge schwule Männer bittere Realität ist: „Der Tag, an dem Stefan zusammengeschlagen wurde, war einer der aufregendsten und schönsten seines Lebens.“ Da hatte Stefan einen sonnigen Tag am Rhein hinter sich und sein erstes Date mit Zdenek, den er vorher nur aus dem Chat kannte, den ersten Kuss und das erste Mal Hand-in-Hand durch die Stadt gehen. Zum Abschied am Zug noch einmal ein letzter, inniger Kuss, das Versprechen des Wiedersehens und dann eben doch kein Happy End, sondern der Schlag eines fremden Mannes mit der Faust in die Magengrube, Stefan schlägt hart auf, verliert das Bewusstsein.

Im Vorübergehen nimmt Sabine Huttel mehr als das eine Thema hinein in ihre Geschichten. Ja, Stefan, der Deutsche, trifft bei seinem Coming-out auf das Verständnis seiner Mutter, das Zdeneks tschechischer Vater ihm verweigert. Ja, für Nikos, dessen Geschichte mit „Schlüsselloch“ überschrieben ist, bleibt in seiner griechischen Familie der Weg zu einem offenen und selbstbewussten Leben als schwuler Mann noch verschlossen. Ja, HIV und AIDS sind ein Thema für junge Schwule, wenn im „Rampenlicht“ die Geschichte von Tobi erzählt wird, der sich verabschiedet von seiner verstorbenen Oma.

Sabine Huttel hat für ihr Buch schwule Männer interviewt und daraus das Garn ihrer Geschichten gesponnen. Die 1951 geborene Autorin hat 38 Jahre lang an verschiedenen Schulen in Hamburg und Nordrhein-Westfalen Deutsch und Sozialwissenschaften unterrichtet, auch vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen weiß sie, wie aktuell homophobe Gewalt und vor allem die verinnerlichte Ablehnung des eigenen Schwulseins noch immer sind.

Immer dann, wenn es ihr gelingt, die Welt mit den Augen ihrer Protagonisten zu sehen, sind die Geschichten besonders dicht erzählt und emotional aufgeladen. Jonas erlebt in „Slalom“ aus der Entfernung eine kurze Begegnung zwischen einem Musiklehrer und Desiderio, auf den sich seine Sehnsucht und buchstäblich sein Verlangen richtet: „Diese Berührung hatte ihn erschüttert, als wäre er selbst, und viel heftiger von Desiderio berührt worden.“

Manchmal jedoch wäre den Protagonisten der Erzählungen und den Leser/innen mehr Glück zu wünschen beim Coming-out, dass am Ende eben nicht der Eindruck entsteht, schwule Liebe, schwules Leben sei ein schwere(re)s Schicksal. Das mutet bisweilen rückwärtsgewandt an und erinnert an die Zeit vor der Abschaffung des § 175 im Jahr 1994 und vor dem Inkrafttreten des Lebenspartnerschaftsgesetzes im Jahr 2001 und des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes im Jahr 2007, als die elterliche Reaktion auf das eigene Coming-out die gesellschaftliche Ablehnung im Mikrokosmos Familie vorwegnahm, wiederholte, fortschrieb und verstärkte. Andererseits: Heute, da jede Vorabendserie selbstverständlich sein schwules Paar zeigt, da der Regierende Bürgermeister der Bundeshauptstadt selbstverständlich sagen kann, dass es gut sei, schwul zu sein, da der Deutsche Außenminister ein schwuler Mann sein kann, brauchen wir offenbar Erzählungen, die daran erinnern, dass es nicht an jedem Ort und zu jeder Zeit so selbstverständlich ist, das eigene Schwulsein als einen positiven Teil der eigenen Person und der eigenen Lebensgeschichte zu erfahren. Wie wichtig es für schwule Männer ist, dieses Selbstbewusstsein erst zu lernen und eben nicht die Diskriminierung durch ein Verschweigen der eigenen Sehnsucht, des eigenen Begehrens, der eigenen Liebe zu wiederholen, davon sprechen diese sieben Geschichten.

www.markus-chmielorz.de

 

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