Fremde Kindheiten – Manuela Haselberger in „Eselsohr“, Dezember 2009

Sabine Huttel schildert in ihrem Debüt Mein Onkel Hubert die Nachkriegszeit in Wiesbaden. Helmi lebt mit ihrer Mutter in einer winzigen Wohnung. Die Nachbarn beäugen die Frau, die sich und ihr Kind mit Schneiderarbeiten über Wasser hält, äußerst kritisch. Noch ist ein uneheliches Kind ein gesellschaftlicher Makel. Was zählt, ist die Einhaltung der Mittagsruhe und Ein sauber geputztes Treppenhaus…

Fremde Kindheiten

Es sind drei sehr unterschiedliche Kindheiten, die von den Autorinnen Sabine Huttel, Gail Jones und dem italienischen Shooting-Star der Literaturszene, Paolo Giordano, erzählt werden. Gemeinsam ist allen, dass die Kinder, von denen sie berichten, ihre Kindheit nicht unbeschadet erlebten, sondern einen Knacks erlitten, der sie ein ganzes Leben begleitet.

Sabine Huttel schildert in ihrem Debüt Mein Onkel Hubert die Nachkriegszeit in Wiesbaden. Helmi lebt mit ihrer Mutter in einer winzigen Wohnung. Die Nachbarn beäugen die Frau, die sich und ihr Kind mit Schneiderarbeiten über Wasser hält, äußerst kritisch. Noch ist ein uneheliches Kind ein gesellschaftlicher Makel. Was zählt, ist die Einhaltung der Mittagsruhe und Ein sauber geputztes Treppenhaus. Am liebsten singt Helmi im Kinderchor. Der 50-jährige Chorleiter besucht sie und ihre Mutter gerne, geht mit letzterer hin und wieder aus und Helmi freut sich, fast so etwas wie eine Familie zu haben. Das geht gut, bis sie mit Onkel Hubert in den Herbstferien zu einer Chorfreizeit fährt. Danach ist nichts mehr in Ordnung, denn Hubert hat sich dem Mädchen sexuell genähert und Helmi kann das Geschehene überhaupt nicht einordnen. Sicher ist nur, dass sie mit niemandem darüber sprechen kann. Das Ungewöhnliche an diesem Euch ist, neben der atmosphärischen Dichte der Nachkriegszeit, die Darstellung des sexuellen Missbrauchs aus der Sicht von Helmi. Sie reagiert stufenweise mit Verdrängung, Depression und eingebildeter Liebe. Es dauert lange, bis sie für sich feststellt, „was für ein widerlicher Kerl“ Onkel Hubert ist.

Am anderen Ende der Welt, in Australien, erlebt das Mädchen Perdita, geb. 1930, eine ähnliche Zeit des Stillstands. Sie wohnt mit ihren Eltern auf einem abgelegenen Hof und auch nach Jahren im australischen Busch werden sie alle nicht heimisch. Der Vater vergräbt sich in seinen anthropologischen Studien und tapeziert die Wände des Hauses mit Bildern aus dem Krieg. Die Mutter sucht Trost im Rezitieren von Shakespeare Sonetten, für ihr Kind empfindet sie keine Spur von Interesse. Einzig die Flucht in die Bücher bietet Abwechslung. Als Mary, ein Aborigine-Mädchen, als zusätzliche Hilfe für die Mutter auf den Hof kommt und sich schon bald zu einer richtig guten älteren Schwester Perditas entwickelt, wird das Leben farbiger. Der große Einschnitt ist der Tod von Perditas Vater. Er stirbt mit einem Messer im Rücken. Mary nimmt die Tat auf sich. Die Australierin Gail Jones erinnert mit Perdita an die Schuld der Weißen, die ohne nachzudenken und lange Zeit ohne Entschuldigung, Kinder der Aborigines aus ihren Familien herausgerissen haben. Ein eindringlicher und großartiger Roman über ein Kind, das in seinem Unglück die Sprache verliert und in der eigenen Familie nicht wahrgenommen wird.

Um eine ganz andere Schuldfrage geht es in Die Einsamkeit der Primzahlen. Der kleine Junge Mattia hat nur ein einziges Mal auf seine behinderte Zwillingsschwester nicht aufgepasst und schon ist das Unglück geschehen. Ihr Tod wird sein Leben fortan begleiten wie ein dunkler Schatten. Einzig das Lernen und die geordnete Welt der Mathematik bieten ihm Schlitz. Ähnlich geht es auch Alice. Sie hat als kleines Mädchen einen bleibenden Schaden erlitten, als sie versuchte, den Ansprüchen ihres Vaters zu genügen und endlich einen Ski-Kurs belegte. Bis der schreckliche Unfall passiert. Danach bleibt ihr Bein steif, ·ihr Körper kommt ihr fremd vor und das Vertrauen zu ihrem Vater ist zerstört. Mattia und Alice sind zwei Kinder, die das Fremdsein in der Welt schon sehr früh erfahren haben und dieser Zustand ändert sich für sie nicht mehr. Sie stehen einsam wie die Primzahlen im Reich der Mathematik. Durch ihre Freundschaft erkennen sie., dass ihre Beziehung in der Welt der Zahlen einen eigenen Namen hat: „Primzahlzwillinge“.

In Italien wurde dieser großartige Roman völlig zu Recht mit dem begehrten Premio Strega ausgezeichnet. Eine absolute Lese-Empfehlung.

Manuela Haselberger

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