Die Wirklichkeit sieht anders aus – Interview aus „Du&Ich“

Du & Ich: „Hallo, Frau Huttel! Sind Sie eine Art schwule Frau – oder wie sonst können Sie so wunderbare Kurzgeschichten über Schwule schreiben?“

Huttel: (lacht) Nö, nicht mal lesbisch…Du&Ich Interview Aug-Sept-2011

Andreas Hergeth im Gespräch mit Sabine Huttel, „Du&Ich“, Heft August/September 2011

Die Wirklichkeit sieht anders aus

70  KULTUR  BUCH  DU&ICH  08/09  2011

SABINE HUTTEL LEGT MIT „SLALOM“ WUNDERBARE SCHWULE KURZGESCHICHTEN VOR

Slalom – das ist ein merkwürdiger Titel für einen Erzählband mit sieben Kurzgeschichten, die alle schwulen Alltag zum Thema haben. Sabine Huttel sucht das Besondere im Kleinen, das macht Sinn, wird man hier doch oft fündig. Eben so wie in der titelgebenden Shortstory „Slalom“, in der von Jonas die Rede ist. Ein Jugendlicher, der sich in einen anderen Jungen aus der Musikschule verguckt. Man liest und denkt: Alles klar, solche Geschichten kennt man! Doch dann vollführt die Autorin einen Schlenker, so wie ihr Held Jonas, denn der hat keine Traute, zu sich selbst zu stehen. Also geht er weiter mit einem Mädchen aus seiner Schule – Händchenhalten auf dem Pausenhof als Alibi: damit bloß keiner auf die Idee kommt, er wäre schwul. Solche Geschichten kennen viele Schwule aus eigenem Erleben. Auf dem Weg zum Coming-out fährt eben mancher von uns Slalom wie in Kindertagen mit dem Kinderrad um diese kleinen bunten Fähnchen. Doch irgendwann wird es halt Zeit, aufs Erwachsenenrad umzusteigen.

DU&ICH sprach mit der Autorin über ihre klugen, sensiblen und so aufschlussreichen Geschichten.

Hallo, Frau Huttel! Sind Sie eine Art schwule Frau – oder wie sonst können Sie so wunderbare Kurzgeschichten über Schwule schreiben?

(lacht) Nö, nicht mal lesbisch, sondern ganz langweilig: hetero und verheiratet.

Im Ernst: Wieso können Sie sich derart sensibel und klug in die Gefühlswelt junger Menschen vor dem oder im Coming-out-Prozess einfühlen?

Danke für das Kompliment! So geheimnisvoll ist das aber gar nicht: Ich habe schwule Freunde, die ich sehr mag. Dadurch habe ich von nahem mitbekommen, welche Spannungen sie aushalten müssen – zusätzlich zu allem anderen, was im Leben anstrengend ist. Die sexuelle Orientierung ist ja keine Mode, die man auch locker mal wieder lassen kann, sondern etwas Existenzielles. Deshalb sind schon die emotionalen Vorbehalte, auf die Homosexuelle im Alltagsleben stoßen, für sie unmittelbar bedrohlich – von handfester Benachteiligung ganz zu schweigen. Beides erfahren sie ständig, auch von Leuten, die Homosexualität theoretisch akzeptieren. Durch die Zuneigung zu meinen Freunden wurde ich darauf aufmerksam. So ist mir manches aufgefallen, was andere vielleicht übersehen.

Wo kommt das Interesse fürs Besondere her? Schließlich handeln Ihre Geschichten von Außenseitern wie einem dicken Jungen oder besonders heiklen Familienkonstellationen à la „In griechischen Familien gibt’s keine Schwuchteln!“.

Ich interessiere mich für Menschen, also immer für das Besondere. So auch beim Recherchieren für dieses Buch: Ein Jahr lang habe ich Schwule interviewt, die mir eine Menge über sich erzählt haben. Der dicke Richard aus meiner Geschichte „Feierabend“ muss so viel futtern – Leibesfülle ist seine einzige Möglichkeit, etwas Raum für sich zu beanspruchen und sich vor der angriffslustigen Normalität seiner Provinz-Umgebung zu schützen. Dieses Phänomen des Dickseins vor dem Coming-out ist mir in den Interviews mehrfach begegnet. Als ich das Vorbild für Richard interviewt habe, lebte er glücklicherweise schon in einer Großstadt, war schlank und studierte Filmwissenschaft … Jede meiner Geschichten beruht im Kern auf einem Interview, auch die des Griechen Nikos. Für schwule Jugendliche gibt’s wohl generell keine vollkommen unheikle Familienkonstellation, aber für griechische oder türkische Jugendliche ist es meist besonders schwierig, sich innerhalb der Familie zu outen.

Sie schreiben auch über homophobe Gewalt – ausgerechnet in einer Geschichte verpackt, die voller Glückshormone daherkommt. Musste das sein?

Ja. Leider. Homophobe Gewalt gibt es tagtäglich und überall, eben auch in Köln oder Berlin. In Romanen schwuler Autoren wird nicht selten eine Welt vorgegaukelt, in der im Grunde alle schwul sind und in der HIV weit und breit das einzige Problem für Schwule ist. Das finde ich seltsam. Die Wirklichkeit sieht jedenfalls anders aus.

Interview: Andreas Hergeth

www.du-und-ich.net

 

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