Immer trifft Sabine Huttel den Ton der sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten, immer sucht sich die Geschichte bei ihr die richtige Form. Eine der traurigsten ist vielleicht die des einsamen, HIV-positiven Mannes, der in „Rampenlicht“ seiner Oma das Herz ausschüttet – die gerade gestorben ist…
Sieben Leben
14.04.2011 – WIESBADEN
Von Birgitta Lamparth
LITERATUR „Slalom“ – das neue Buch der Autorin Sabine Huttel
Sie gehen noch zur Schule oder steuern auf den Lebensabend zu. Sie verlieben sich oder müssen eine Trennung verschmerzen. Sie leben in Großstädten oder auf dem Land. Aber immer ist es ein Leben, das von „Vorsicht schon vollständig überwuchert“ ist. Das schreibt Sabine Huttel an einer Stelle in ihrem neuen Buch „Slalom“. Es sind Männer, die im Mittelpunkt der sieben Erzählungen stehen, und sie sind schwul.
Die aus Wiesbaden stammende Autorin hatte 2009 ein glänzendes Romandebüt vorgelegt: „Mein Onkel Hubert“. Die Geschichte einer verletzten Jugend im Wiesbaden der 60er Jahre erzählte sie aus Sicht einer 12-Jährigen – sprachlich virtuos, atmosphärisch dicht und mit deutlichen Bezügen zu Nabokovs „Lolita“, wie sie auch während ihrer Lesung im Wiesbadener Literaturhaus im vergangenen Jahr erläuterte.
Diesmal nun also Erzählungen, die ab Mai in den Buchhandel kommen – und auch diesmal wieder ein schwieriges Thema. Wie kam sie als Hetera dazu, über männliche Homosexualität zu schreiben? „Ich habe zwei schwule Freunde und dadurch aus der Nähe mitbekommen, unter welchen Spannungen so ein Leben stehen kann“, erläutert die Autorin beim Besuch in ihrer alten Heimat im Tagblatt-Gespräch. Spannungen vor allem aus ihrer Sicht, weil „Du in elementaren Aspekten deiner Existenz nicht selbstverständlich akzeptiert bist“. Weil einerseits eine „Pseudoliberalität“ herrsche, die zwar homosexuelle Promis anerkenne, „aber in der Mitte der Gesellschaft, wo man einen Beruf, ein Familienleben haben will, da ist es schwierig“.
Deshalb spielt das Thema Angst vor Entdeckung in ihren Erzählungen eine besondere Rolle. Erzählungen, wie es sie so noch nicht gibt in der Coming-Out-Literatur – von Annie Proulx mal abgesehen.
Diesmal Erzählungen: Die aus Wiesbaden stammende Autorin Sabine Huttel. Foto: Archiv
ZUR PERSON
Sabine Huttel ist 1951 in Wiesbaden geboren, hat an der Helene-Lange-Schule ihr Abitur gemacht. In Mainz studierte sie zunächst Medizin, später in Marburg Germanistik und Politikwissenschaft. Sabine Huttel war viele Jahre Lehrerin für Deutsch und Sozialwissenschaft. Sie spielt Geige in Orchestern und Kammermusik-Ensembles und lebt heute in Heiligenhaus bei Essen.
Das Versteckspiel beginnt in diesen sensibel gefassten, präzise
http://www.wiesbadener-tagblatt.de/region/wiesbaden/meldungen/print_10605011.htm Seite 1 von 3Wiesbadener Tagblatt – Druckansicht: Sieben Leben 14.06.11 12:09
beobachteten Sequenzen schon in früher Jugend, wenn die Hauptfiguren ihre Sehnsüchte gerade erst entdecken. Wie in der Titelgeschichte: In „Slalom“ entbrennt der Junge Jonas für den Musiker Desiderio, hat sich aber eine Freundin zugelegt, um ein Alibi zu haben. Und die leidet auch.
Der Grieche Nikos in „Schlüsselloch“ ist schon ein paar Jahre älter, endlich von zu Hause ausgezogen und will sein Leben nun leben – da droht ausgerechnet die eigene Schwester ins das selbe Haus zu ziehen… Seine Midlife-Crisis erlebt Winni in „Advent“ und versucht, ihr durch die immer gleichen Schilderungen seiner wilden Jugend zu entgehen. Und dann der 76-jährige Familienvater, der nach dem Tod seiner Frau einen jungen Liebhaber an seiner Seite hat in „Zumutung“. Von seiner Geschichte erfahren wir als Leser durch eine raffinierte sprachliche Form der Autorin: Wir belauschen quasi das Telefonat seiner Tochter mit einer Fraundin, wobei man nur die Seite der empörten Tochter „hört“.
Immer trifft Sabine Huttel den Ton der sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten, immer sucht sich die Geschichte bei ihr die richtige Form. Eine der traurigsten ist vielleicht die des einsamen, HIV-positiven Mannes, der in „Rampenlicht“ seiner Oma das Herz ausschüttet – die gerade gestorben ist. Und natürlich die jenes dicken Jungen irgendwo im Norddeutschen, der in „Feierabend“ Chips in sich reinfuttert, um mehr Raum für sich zu beanspruchen.
Seine Geschichte, wie andere auch, hat Sabine Huttel in einem der vielen Recherchegespräche gehört, die sie über Freunde oder Jugendzentren in zahlreichen Städten geführt hat. Einiges davon hat in ihren wunderbar feinfühlig formulierten Erzählungen Eingang gefunden. Anderes musste sie weglassen – wie die 100- seitige Novelle über einen Studenten in Cambridge, die eigentlich noch zu den Erzählungen gehörte, den Rahmen aber sprengte. So entlässt sie ihre Leser mit der Geschichte eines ersten Kennenlernens in „Neuland“. Mit all den feinen Regungen, den Ängsten und Aufregungen. Und mit einem Schluss, der nachhaltig wehtut.
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